Die Corona-Krise hat die Welt unvermittelt in ein neues Zeitalter katapultiert. Soziologen wie Reinhard Blomert wähnen uns schon auf dem Weg auf eine neue Stufe der Zivilisation. In seinem erstmals 1939 erschienenen Klassiker „Über den Prozess der Zivilisation“ hat Norbert Elias eindrucksvoll beschrieben, wie sich gesellschaftliche Regeln im Laufe der Geschichte entwickelt haben: weg von einem rohen und ungezügelten Umgang miteinander, hin zu dem, was wir heute als zivilisiertes Verhalten empfinden.
Distanzwahrung zum Schutz vor Infektionsausbreitung gehörte bislang nicht dazu. Trotz offensichtlicher Erkältung die Hand zum Gruß anzubieten, galt bis vor kurzem als normal, und es wurde als unhöflich empfunden, sich dem zu verweigern. Wegen einer Erkältung oder einer Darminfektion zu Hause zu bleiben, statt zur Arbeit zu kommen, wurde typischerweise eher als Schwäche ausgelegt denn als vorbildliches Verhalten. Ein tieferes Verständnis für Hygieneregeln dürfte im Bewusstsein der meisten Menschen kaum eine Rolle gespielt haben.
Achtlose Verbreitung von Viren und Bakterien
Die COVID-19-Pandemie zwingt uns zum Umdenken und macht uns drastisch bewusst, wie viel vermeidbarer Schaden auch schon vorher alljährlich durch die achtlose Verbreitung von Viren und Bakterien angerichtet wurde. Wie viel anders hätte die Krise in Europa verlaufen können, wäre die vermeintliche Erkältung eines Barkeepers in Ischgl nicht als Bagatelle betrachtet worden?
Laut Fehlzeiten-Report der AOK sind gut vier Prozent der Beschäftigten in Deutschland aufgrund einer Erkrankung vorübergehend nicht in der Lage ihren Job auszuüben. Kurzzeitige Ausfälle infolge von Infektionskrankheiten spielen dafür zwar nur eine vergleichsweise geringe Rolle, aber es mehren sich die Anzeichen dafür, dass Viren nicht nur für Grippe, Erkältungen und Durchfall verantwortlich sind, sondern auch für zahlreiche Krebsarten und andere Krankheiten, die zu einer dauerhaften Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit führen. Es lohnt sich also, über eine wirksame Einschränkung der Verbreitung von Viren nachzudenken.
Pandemiepläne kaum eine Meldung wert
Eine Pandemie wie die aktuelle war von Epidemiologen lange erwartet worden. Dennoch fehlte breiten Teilen der Bevölkerung eine anschauliche Vorstellung davon, was das bedeuten könnte. Die Veröffentlichung entsprechender Pandemiepläne war den Medien in den letzten Jahren kaum eine Meldung wert. Die gut hundert Jahre zurück liegende Spanische Grippe war aus dem kollektiven Gedächtnis weitgehend verschwunden. Ihre verheerende Wirkung fiel in dem allgemeinen Desaster, das der Erste Weltkrieg angerichtet hatte, kaum ins Gewicht.
Liebgewonnene Gewohnheiten aufzugeben fällt den meisten Menschen schwer.
Das SARS-CoV2-Virus wird mutmaßlich bei weitem nicht so viele Todesopfer fordern wie seinerzeit die Spanische Grippe, hat aber dennoch das Zeug, sich bleibend in das kollektive Gedächtnis einzubrennen, ähnlich wie die Hyperinflation Ende der 1920er Jahre. Nach sieben Jahrzehnten nahezu kontinuierlicher Wohlstandszuwächse kommt es zu einem bis vor kurzem nicht für möglich gehaltenen Einbruch der Weltwirtschaft. Das Tragische daran ist, dass er vermeidbar gewesen wäre, hätte man überall so konsequent reagiert wie in Taiwan oder Südkorea, wo man auf Derartiges besser vorbereitet war.
Liebgewonnene Gewohnheiten aufzugeben fällt den meisten Menschen schwer. Ignaz Semmelweis wurde im 19. Jahrhundert für den Nachweis, dass Händewaschen ein höchst wirksames Mittel zur Bekämpfung des Kindbettfiebers ist, von seinen Ärztekollegen verspottet und schließlich sogar Opfer eines Mordkomplotts. Der bekannte Theaterregisseur Frank Castorf poltert derzeit wortgewaltig, dass er sich von der Kanzlerin nicht vorschreiben lasse, wann er sich die Hände zu waschen habe.
Gewaltige Schuldenlast für die kommenden Generationen
Lernen funktioniert manchmal leider nur durch Schmerzen. SARS-CoV2 erteilt uns gerade eine solch schmerzhafte Lektion: Bessere Hygiene am Arbeitsplatz, mehr Achtsamkeit im direkten zwischenmenschlichen Kontakt, Hygieneunterricht in den Schulen sind ein geradezu lächerlicher Preis im Vergleich zu der gewaltigen Schuldenlast, die gerade den kommenden Generationen aufgetragen wird.
Darüber hinaus zwingt das Virus zahllose Eltern zusammen mit ihren Kindern für Wochen und Monate ins Homeoffice. Der Begriff dürfte ein heißer Anwärter auf das Unwort des Jahres sein. Was vor der Krise für viele noch verheißungsvoll klang, entpuppt sich für die Betroffenen inzwischen als Inbegriff der Hölle. Oft stehen daheim nämlich weniger Computer zur Verfügung als für Kinder und Erwachsene benötigt werden, und es gibt keinen geeigneten Ort zum ungestörten und ergonomisch angepassten Arbeiten. Psychologen warnen bereits vor den Folgen, die der davon ausgehende Stress nach sich zieht. Wie hoch die Schäden sein werden, die vor allem die Kinder dauerhaft davontragen, wird sich erst in einigen Jahren abschätzen lassen.
Der einstige Glanz des Homeoffice dürfte durch die Krise arg gelitten haben.
Fest steht schon heute, dass die Produktivität im Homeoffice stark eingeschränkt ist. Umso befremdlicher mutet es an, dass ausgerechnet in dieser Phase der Arbeitsminister ein Recht der Arbeitnehmer auf Homeoffice gesetzlich verankern möchte. Natürlich werden auch wieder Zeiten kommen, in denen Heimarbeit möglich ist, während die Kinder zur gleichen Zeit anderweitig betreut werden. Doch der einstige Glanz des Homeoffice dürfte durch die Krise arg gelitten haben.
Viele Beschäftigte sehnen sich an den betrieblichen Arbeitsplatz zurück
Überdies werden die Gewerkschaften nach und nach entdecken, dass die Homeoffice-Arbeit Tücken mit sich bringt, die nicht zu unterschätzen sind. Wo eine Arbeitszeitkontrolle praktisch nicht möglich ist, rückt die Leistungsbeurteilung stärker in den Vordergrund. Der Zwang, diese objektivieren zu müssen, gleicht angesichts der Komplexität der Anforderungen im modernen Arbeitsleben dem Öffnen der Pandorabüchse.
Aber auch das starke Bedürfnis nach direktem zwischenmenschlichem Kontakt wird dazu führen, dass sich die meisten Arbeitnehmer nichts sehnlicher wünschen als einfach nur schnellstmöglich an ihren angestammten Arbeitsplatz zurückkehren zu können. Und es wird hoffentlich auch dazu führen, dass alle Beteiligten dem nachhaltigen Gesundheitsmanagement von nun an mehr Aufmerksamkeit widmen werden.
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Dieser Beitrag ist am 2. Mai 2020 im General-Anzeiger Bonn erschienen.