Das neue Jahresgutachten der Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI) wurde der Bundeskanzlerin angesichts der Pandemie in Berlin virtuell übergeben (Details siehe EFI-Homepage). In einem Schwerpunkt widmet sich das Gutachten den Herausforderungen für die berufliche Aus- und Weiterbildung in Deutschland, die sich aus der fortschreitenden Digitalisierung in der Wirtschaft und an den Arbeitsplätzen ergeben.
Dazu ein Interview mit IZA-Forschungsdirektor Holger Bonin, der sich intensiv mit den Beschäftigungsfolgen des Übergangs zur digitalen Arbeitswelt befasst und als Mitglied der EFI-Kommission am Gutachten mitgewirkt hat:
Herr Professor Bonin, wie verändert sich die Arbeitswelt durch die digitale Transformation?
Holger Bonin: Viele Menschen befürchten ja, dass uns durch Digitalisierung die Arbeit ausgehen wird. Die Zahlen sprechen aber eine ganz andere Sprache: Die vorhandenen Projektionen zeigen uns, dass selbst bei einer beschleunigten Digitalisierung die Beschäftigung in Deutschland allenfalls leicht zurückgehen wird. Was aber passieren wird, ist eine Umwälzung der Beschäftigung. Auf der einen Seite entstehen neue Beschäftigungsmöglichkeiten, auf der anderen Seite gehen viele vorhandene Tätigkeiten und damit auch viele Arbeitsplätze verloren. Und das bedeutet, dass sich die betroffenen Menschen beruflich neu orientieren müssen. Deshalb wird der Weiterbildungsbedarf erheblich zunehmen.
Die Digitalisierung wird zu einer Umwälzung der Beschäftigung führen und Tätigkeitsprofile verändern.
Ein anderer wichtiger Faktor ist, dass sich auch an den Arbeitsplätzen, die erhalten bleiben, die Tätigkeitsprofile verändern. Durch immer mehr künstliche Intelligenz, durch intelligente Maschinen geht Routine-Arbeit verloren und wird gefüllt durch anspruchsvollere Tätigkeiten. Deshalb müssen sich die Menschen auch innerhalb ihres Berufs immer weiter und besser qualifizieren, um ihre berufliche Handlungsfähigkeit zu erhalten.
Was fordern denn künftig Arbeitgeber von Mitarbeitern?
Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer benötigen zunächst einmal technologische Fähigkeiten. Die braucht man, um neue digitale Techniken und neue Maschinen zu entwickeln. Daneben brauchen alle Beschäftigten digitale Kernfähigkeiten, damit neue Techniken und digitale Methoden auch in der Breite eingesetzt werden können. Was aber mindestens ebenso wichtig ist: Mit dem Übergang zur Wirtschaft 4.0 entstehen neue Geschäftsmodelle, neue flexible Formen der Arbeitsorganisation. Und damit verbunden ist ein Bedarf an sogenannten „klassischen Kernfähigkeiten“.
Neben technologischen Fähigkeiten werden auch klassische Kernfähigkeiten stärker gefragt sein.
Das sind zum Beispiel Problemlösungsfähigkeit, Kreativität, Fähigkeit zu kommunizieren. Heute haben immer mehr Beschäftigte, die das früher gar nicht tun mussten, mit Kunden zu tun, weil sie Dienstleistungen erbringen und nicht nur produzieren. Um diese verschiedenen Kernfähigkeiten zu entwickeln, müssen Unternehmen, Arbeitnehmer und auch der Staat ganz viel tun. Denn wenn es uns nicht gelingt, diese Fähigkeiten in der Breite der Erwerbsbevölkerung zu entwickeln, dann wird es uns auch nicht gelingen, die Früchte der Digitalisierung voll zu ernten.
Ist die berufliche Aus- und Weiterbildung bei uns gut auf diese Herausforderung eingestellt?
In den meisten Ausbildungsberufen wurden in den letzten Jahren die inhaltlichen Vorgaben bereits an die Digitalisierung angepasst. Woran es allerdings oft hapert, ist die Umsetzung dieser Vorgaben in die betriebliche Praxis. Das beobachten wir insbesondere in kleinen und mittelgroßen Unternehmen, die weniger digitalisiert sind. Beim Berufsausbildungspersonal sehen wir, dass häufiger die Fähigkeiten, die man in der digitalen Arbeitswelt benötigt, selbst fehlen. Die Ausbildungs- und Lernmethoden sind nicht immer zeitgemäß und auf dem neuesten Stand. Im Bereich der beruflichen Weiterbildung tun sich viele Beschäftigte schwer, sich in ihrem Erwerbsverlauf noch einmal komplett neu zu orientieren. Wir reden in Deutschland zwar viel über lebenslanges Lernen, wir könnten da aber durchaus noch besser werden.
Lebenslanges Lernen erfordert zielführende Angebote, aber auch die nötige Anpassungsbereitschaft.
Ein Problem ist die recht unübersichtliche Weiterbildungslandschaft. Es gibt viele Anbieter, viele Angebote. Aber die Akteure, die nach solchen Angeboten suchen, tun sich schwer herauszufinden, welche Angebote für sie passgenau und zielführend sind. Um solche Probleme zu überwinden, sind in erster Linie die Unternehmen, aber auch die Beschäftigten gefragt. Der Staat kann dabei flankierende Hilfe geben. Er kann Impulse setzen, die Rahmenbedingungen verbessern, und er kann versuchen die Anpassungsbereitschaft zu stärken.
Was konkret wären geeignete Maßnahmen, um die Berufsausbildung fit für die digitale Transformation zu machen?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass die Ausbildungsgestaltung überall an die Digitalisierung angepasst wird. Dafür brauchen insbesondere kleine und mittlere Unternehmen mehr Beratung und Unterstützung. Die Bildung von Ausbildungsverbünden, in denen sich weniger digitalisierte Unternehmen mit digitalisierten Unternehmen zusammentun, sollte gefördert werden.
Berufsschulen brauchen endlich eine flächendeckende, gute Ausstattung mit digitaler Technik.
Zweitens ist es notwendig, mehr in die Berufsschulen zu investieren. Wir brauchen endlich eine flächendeckende, gute Ausstattung mit digitaler Technik. Auch die Fort- und Weiterbildung der Ausbildenden und der Lehrkräfte an Berufsschulen sollte gestärkt werden, damit sie in die Lage versetzt werden, die Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die man in der digitalen Arbeitswelt braucht.
Außerdem empfiehlt die EFI-Kommission, die berufliche Ausbildung durch die verstärkte Nutzung von sogenannten Zusatzqualifikationen flexibler zu machen. Das sind kleine, in sich abgeschlossene Module, die man flexibel an sich wandelnde inhaltliche Anforderungen anpassen kann und die die Grundlage für sich ausdifferenzierende Fachkarrieren legen können. Im Idealfall sollten diese Zusatzqualifikationen auch für die berufliche Weiterbildung geöffnet werden.
Was empfiehlt die EFI für die berufliche Weiterbildung?
Dafür sehen wir eine ganze Reihe von Ansatzpunkten. Kleine und mittlere Unternehmen sollten dadurch unterstützt werden, dass Netzwerke gebildet werden, die leistungsfähige, überbetriebliche Lösungen ermöglichen. Deshalb begrüßen wir, dass das Bundesarbeitsministerium die Bildung von Weiterbildungsverbünden jetzt unterstützt.
Um die berufliche Flexibilität zu erhöhen, sollten verstärkt präventive Anpassungsqualifizierungen gefördert werden. Nach Einschätzung der EFI-Kommission sind die vorhandenen Instrumente zur Förderung der beruflichen Weiterbildung zu stark darauf ausgerichtet, eine Weiterbeschäftigung beim bisherigen Arbeitgeber zu ermöglichen. Sie setzen außerdem häufig zu spät ein, nämlich erst dann, wenn der vorhandene Arbeitsplatz bereits stark gefährdet ist. Deswegen sollten Brückenlösungen entwickelt und erprobt werden, die es den Beschäftigten ermöglichen, frühzeitig berufliche Qualifizierungen zu durchlaufen, die sie befähigen, zu einem neuen Arbeitgeber zu wechseln. Damit solche Brückenlösungen tragfähig sind, ist es entscheidend, dass sowohl der alte als auch der neue Arbeitgeber sich angemessen an diesen Lösungen beteiligen.
Berufliche Weiterbildung setzt häufig zu spät an, nämlich wenn der Arbeitsplatz bereits stark gefährdet ist.
Außerdem hält die EFI-Kommission ein Monitoring von beruflichen Kompetenzen in Deutschland für sinnvoll. Damit ist gemeint, dass sowohl die Fähigkeiten, die im Berufsleben gebraucht werden, als auch die Fähigkeiten, die bei den Beschäftigten vorhanden sind, kontinuierlich und umfassend erfasst werden. Wir sind überzeugt, dass eine bessere Informationsbasis entscheidend dazu beitragen kann, passgenaue Aus- und Weiterbildungen vor dem Hintergrund des digitalen Wandels zu ermöglichen.
Wie sollte die Bundesregierung die Umsetzung dieser Maßnahmen generell angehen?
Die Bundesregierung muss sich in den nächsten Jahren mit Nachdruck für eine Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland einsetzen. Schließlich sind wir nicht nur mit der digitalen Transformation konfrontiert, sondern auch mit dem demografischen Wandel, mit den starken Anstrengungen für einen besseren Klimaschutz, mit der Überwindung der strukturellen Folgen der Corona-Krise. All dies erhöht den Bedarf an Aus- und Weiterbildung. Darum begrüßt die EFI-Kommission, dass die Bundesregierung die nationale Weiterbildungsstrategie ins Leben gerufen hat. Jetzt wird es darauf ankommen, die zusammen mit den Sozialpartnern entwickelten Maßnahmen und Vorhaben schnell und agil umzusetzen und auch deren Wirkungen zu evaluieren, damit man gegebenenfalls nachsteuern kann.
Bessere Qualifikation bedeutet stärkere Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit, bessere Jobs und mehr Einkommen.
Die Bundesregierung muss sich in den nächsten Jahren mit Nachdruck für eine Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland einsetzen. Wenn es uns gelingt, angesichts der Herausforderungen durch die digitale Transformation das deutsche Aus- und Weiterbildungssystem noch leistungsfähiger zu machen, dann wird davon nicht nur die deutsche Volkswirtschaft profitieren, weil die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit steigt. Auch die Beschäftigten werden nachhaltig gewinnen, denn auch in Zukunft wird gelten: Bessere Qualifikation bringt bessere Jobs und mehr Einkommen.
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Das Interview ist auf der EFI-Seite auch als Video-Podcast abrufbar.