Seit dem 1. Oktober liegt der Mindestlohn in Deutschland bei 12 Euro pro Stunde – 25 Prozent höher als im Vorjahr. Was das für den Arbeitsmarkt bedeutet, wollte die Frankfurter Allgemeine Zeitung von Simon Jäger wissen. Im Interview (auf FAZ.net in voller Länge nachzulesen) erklärt der neue IZA-Chef außerdem, warum der Fachkräftemangel als Problem überbewertet wird und was Deutschland tun sollte, um den arbeitsmarktpolitischen „Blindflug“ zu beenden.
Trotz zusätzlicher Belastung der Unternehmen durch die Energiekrise sei die Mindestlohnerhöhung zum passenden Zeitpunkt gekommen, so Jäger. Einerseits befinde sich die Erwerbstätigenzähl auf Rekordniveau und die Arbeitsnachfrage der Unternehmen sei anhaltend hoch, andererseits litten viele Beschäftigte durch die Inflation unter Reallohnverlusten, wie es sie seit 50 Jahren nicht mehr gegeben habe.
Statt Beschäftigungsabbau im großen Stil rechnet Jäger eher mit einer „Verlagerung von Arbeitsplätzen aus weniger produktiven Betrieben hin zu produktiveren Betrieben“. Die Mindestlohnabhebung sei auch insofern gerechtfertigt, als Deutschland über einen besonders großen Niedriglohnsektor verfüge, der neben geringen Arbeitseinkommen gesamtwirtschaftlich negative Effekte mit sich bringe. Zudem senke ein höherer Mindestlohn die Anreize, bestimmte Tätigkeiten auszulagern und damit aus der Tarifbindung herauszubrechen.
Früher galt das Dogma, der Arbeitsmarkt sei effizient. Heute lässt sich sagen: Auch bestimmte Staatseingriffe sind effizient.
Die Einschätzung, das größte Problem auf dem deutschen Arbeitsmarkt sei der Mangel an Servicepersonal und Fachkräften, teilt der IZA-Chef nicht. Die Zahl der Beschäftigten sei so hoch wie nie, allerdings hätten viele auf der Suche nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen die Branche gewechselt. Dadurch erhöhe sich in bestimmten Branchen der Druck, die Bedingungen zu verbessern oder bestimmte Tätigkeiten zu automatisieren.
Die Arbeitskräfte sind nicht weg, sie sind nur woanders.
In der bevorstehenden Rezession bleibe Kurzarbeit laut Jäger ein wichtiges Instrument, um Arbeitsplätze zu erhalten. Allerdings führe das Kurzarbeitergeld auch zu Mitnahmeeffekten und hemme den Strukturwandel. Die notwendige Balance zu finden, sei in Deutschland besonders schwierig, weil es – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – an geeigneten Daten mangele. Die Politik müsse endlich die Grundlage schaffen, um etwa Arbeitsmarktstatistiken und Unternehmensdaten aus den verschiedenen „Silos“ zusammenführen zu können. Dies sei „die Voraussetzung für exzellente Forschung und damit auch evidenzbasierte Politik“.
Wir bewegen uns in einem wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Blindflug.
Seinen Schritt, vom MIT in Boston ans IZA nach Bonn zurückzukehren, begründet Simon Jäger unter anderem mit der Relevanz des Arbeitsmarktes in den großen gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit. Ein international vernetztes Institut wie das IZA, das hervorragende Forschungsarbeit leiste, sei vor diesem Hintergrund sehr spannend. Um die Position des IZA als „Brückenbauer“ zwischen Wissenschaft und Politik zu stärken, werde derzeit der Aufbau einer Dependance in Berlin geplant.