Die Fußball-Europameisterschaft geht in ihre entscheidende Phase. Viele Spiele wurden mit nur wenigen Toren entschieden, die obendrein erst sehr spät oder gar in der Nachspielzeit erzielt worden sind. Die Reporter hatten häufig genug Gelegenheit, eine alte Fußballerweisheit wieder auszugraben: Ein Tor kurz vor der Halbzeitpause bringt einen psychologischen Vorteil und steigert die Siegchancen. Aber hält dieser Mythos dem Praxistest stand? Dieser Frage gehen Stijn Baert und Simon Amez in einem aktuellen IZA Discussion Paper auf den Grund.
Die Forscher der belgischen Universität untersuchten 1.179 Spiele der Champions League und Europa League aus den Jahren 2008-2014. Für ihre Analyse berücksichtigten sie neben dem Spielverlauf auch diverse Einflussfaktoren wie zum Beispiel rote Karten.
Das Ergebnis: Im Vergleich zu Treffern während des restlichen Spiels bringt ein Last-Minute-Tor vor der Halbzeit keinen nennenswerten Vorteil. Für Heimmannschaften wirkt es sich sogar nachteilig aus.
„Schießt die Heimmannschaft ein Tor in der 45. Minute, dann fällt der Endstand für sie um durchschnittlich ein halbes Tor ungünstiger aus, als wenn der Treffer zu einem anderem Zeitpunkt erzielt wurde“, erläutert IZA-Fellow Stijn Baert.
Abnehmender Druck, Selbstüberschätzung und Taktikfehler
Die Sportpsychologie liefert dazu drei Erklärungsansätze:
- Ein Tor kurz vor der Pause kann die gesunde Anspannung der Spieler bewusst oder unbewusst reduzieren und zu Konzentrationsschwächen im restlichen Spielverlauf führen. Diese Erklärung deckt sich mit weiteren Ergebnissen des belgischen Forscherteams: Ein Tor der Heimmannschaft kurz vor der Pause erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Tor der zweiten Halbzeit ein Gegentreffer ist.
- Unter dem Eindruck des jubelnden Publikums gehen die Heimmannschaften womöglich allzu siegessicher in die Kabine und neigen zur Selbstüberschätzung. Denkbar ist ebenso, dass die Erfolgserwartung einen negativen Druck aufbaut.
- Auch der objektive Blick des Trainer könnte durch den positiven Spielverlauf getrübt sein und ihn dazu verleiten, die Mannschaft für die zweite Halbzeit zu defensiv einzustellen.
Ähnliche Effekte zeigen sich übrigens auch für ein Tor kurz nach der Halbzeitpause. Ein Treffer in den ersten fünf Minuten nach Wiederanpfiff bringt (im Vergleich zu Toren im restlichen Spielverlauf) keinen statistisch messbaren Vorteil für den Endstand.
Fußball und Ökonomie
Warum beschäftigen sich Ökonomen mit Fußball? Nicht nur aus rein sportlichem Interesse – oder weil der Fußball längst ein Milliardengeschäft ist. Auch für die Personalökonomik liefert der Sport mit seinen präzisen und umfangreichen Leistungsdaten wertvolle Erkenntnisse zu Aspekten wie Motivation, Teamwork, Leistungsdruck und Produktivität.