Informelles Lernen im Job spielt für die Produktivität von Arbeitnehmern eine entscheidende Rolle. Im Vergleich zu klassischen Schulungen ist das Lernen von Vorgesetzten und Kollegen meist effektiver und kostengünstiger. Dieses Potenzial wird in Deutschland unterschätzt, wo formelle Qualifikationen und Zertifikate nach wie vor einen hohen Stellenwert genießen. Eine „Kultur des informellen Lernens“ empfiehlt daher der IZA-Fellow Andries de Grip (ROA, Universität Maastricht) in einem Artikel für IZA World of Labor.
„Lernen am Arbeitsplatz“ oder „informelles Lernen“ bezeichnet den Wissenszuwachs, den Beschäftigte durch die Arbeitspraxis selbst oder durch die Interaktion mit Vorgesetzten und Kollegen erlangen. Die Forschungserkenntnisse zeigen, dass das auf diese Weise gesteigerte Know-how der Mitarbeiter zu einer Reduzierung der Lohnstückkosten beiträgt – im verarbeitenden Gewerbe ebenso wie im Dienstleistungsbereich. Auch die rapide ansteigende Produktivität neuer Mitarbeiter im ersten Jahr der Betriebszugehörigkeit ist ein Beleg für die Effektivität des Lernens am Arbeitsplatz.
In deutschen Unternehmen spielt informelles Lernen dennoch eine vergleichsweise geringe Rolle: Laut OECD berichten nur 26% der deutschen Arbeitnehmer von täglichem Erkenntnisgewinn durch „learning by doing“ – in den USA sind es 44%. Vom regelmäßigen Austausch mit Kollegen und Vorgesetzen profitieren nur 16% der Befragten in Deutschland – verglichen mit 24% in den USA. Dabei wird informelles Lernen angesichts der durch den technologischen Fortschritt sinkenden Halbwertszeit von Ausbildungsinhalten immer wichtiger. Auch die verlängerte Lebensalterszeit mit steigendem Renteneintrittsalter erfordert ein häufigeres Dazulernen.
Ein Nachteil für den Arbeitnehmer besteht darin, dass zukünftige Arbeitgeber informelles Lernen nicht ausreichend anerkennen. Einige Länder haben daher bereits begonnen, das Lernen am Arbeitsplatz durch entsprechende Zertifikate stärker zu formalisieren. Davon profitieren auch die Unternehmen selbst, indem sie den Wissensstand der Belegschaft besser einschätzen und beispielsweise produktivere Teams zusammenstellen können. Immerhin entfällt bis zu 96% der gesamten Lernleistung von Beschäftigten auf die Arbeitspraxis.
Klassische Weiterbildungsmaßnahmen hätten zwar nach wie vor ihre Berechtigung, erklärt de Grip. Doch könnten Fortbildungen auf weniger Mitarbeiter konzentriert werden, die das Gelernte anschließend an ihre Kollegen weitergeben. „Die Unternehmen müssen eine Kultur des informellen Lernens schaffen“, fordert der Ökonom. Unterstützung könne die Bildungspolitik leisten, indem sie dafür sorgt, dass bereits in der Schule der Wert von informellem Lernen vermittelt wird.