Stellenbewerbungen im Videoformat erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Die Vorteile liegen auf der Hand: Bewerbende können sich und ihre Qualifikationen auf diese Weise besser „in Szene setzen“, und Personalverantwortliche erhalten schon vor dem Vorstellungsgespräch einen Eindruck vom Auftreten der Kandidaten. Ein möglicher Nachteil besteht jedoch darin, dass Merkmale wie Hautfarbe, Geschlecht, Übergewicht oder Behinderung offengelegt werden, wodurch sich das Risiko von Diskriminierung bei der Vorauswahl von Bewerbungen erhöht.
Ein kanadisches Forscherteam hat nun anhand eines groß angelegten Feldexperiments mit über 2.000 Bewerbungen für Sekretariatsjobs untersucht, inwieweit sich die Quote der positiven Rückmeldungen verändert, wenn ein Link zu einem Video-Lebenslauf beigefügt wird. Bei einem Teil der Videos war erkennbar, dass die Bewerberin im Rollstuhl sitzt (siehe Screenshots).
Die Auswertung der Rückmeldungen zeigt: Der Video-Lebenslauf erhöht die Chance auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch für Bewerberinnen ohne Behinderung von 45 auf 55,3 Prozent und für Bewerberinnen im Rollstuhl von 19,9 auf 27,4 Prozent. Beide Gruppen profitieren also etwa in gleichem Maße vom Video-Lebenslauf.
Der Vergleich offenbart allerdings auch eine deutliche Benachteiligung von Bewerberinnen mit Behinderung: Die Wahrscheinlichkeit einer positiven Rückmeldung lag für sie nur halb so hoch. Die Forscher sehen darin einen Beleg für ein hohes Maß an Diskriminierung bei der Personalauswahl. Um mangelnde Barrierefreiheit des Unternehmens als möglichen Einflussfaktor auszuschließen, hatten sie (in Erweiterung früherer Studien mit ähnlichem Ergebnis) sichergestellt, dass die ausgeschriebenen Stellen rollstuhlgeeignet waren.
Auf den ersten Blick spricht der Befund also dafür, etwaige körperliche Einschränkungen im Video-Lebenslauf zu verbergen, um die Einstellungschancen zu erhöhen. Die Autoren geben jedoch zu bedenken, dass sich die Ergebnisse der Studie nur auf den ersten Schritt des Bewerbungsverfahrens beziehen. Gerade für Menschen mit eingeschränker Mobilität sei die Anreise zum Vorstellungsgespräch oft beschwerlich. Wenn sie trotz sichtbarer Behinderung eine Einladung erhielten, sei davon auszugehen, dass das Unternehmen nicht diskriminiere. Es könne sich daher lohnen, geringere Chancen im ersten Bewerbungsschritt in Kauf zu nehmen, um dafür mit höherer Wahrscheinlichkeit an den „passenden“ Arbeitgeber zu geraten.
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