Die meisten hochentwickelten Volkswirtschaften der westlichen Welt sehen sich mit einem gravierenden demografischen Wandel konfrontiert, der nicht nur zu deutlichen gesellschaftlichen Alterungsprozessen führen, sondern insbesondere das Erwerbspersonenpotenzial in den kommenden Jahrzehnten zusehends schrumpfen lassen wird.
Jüngste Prognosen der OECD stützen die weit verbreitete Einschätzung, nach der die öffentlichen Haushalte durch das Altern der Gesellschaft massiv unter Druck geraten werden: So liegt es auf den ersten Blick nahe, dass ein wachsendes Missverhältnis zwischen Rentenbeziehern und arbeitender Bevölkerung den Generationenvertrag in der Gesetzlichen Rentenversicherung destabilisiert, während zugleich auch ein kontinuierlicher Anstieg der öffentlichen Gesundheitsausgaben erwartet werden kann. Aus dieser pessimistischen Perspektive resultiert die Annahme, der Staat könne in seiner Fähigkeit, den Sozialstaat und andere zentrale öffentliche Güter zu finanzieren, künftig erheblich eingeschränkt werden.
Doch es gibt auch Grund für mehr Optimismus, wie eine neue Studie von Mathias Dolls (ZEW), Karina Doorley (LISER), Alari Paulus (Universität Essex), Hilmar Schneider (IZA), Sebastian Siegloch (Universität Mannheim) und Eric Sommer (IZA) zeigt. Die bekannten Negativprognosen unterschätzen nach Ansicht der Autoren mögliche vorteilhafte Entwicklungen auf der Einnahmenseite öffentlicher Haushalte und ignorieren damit die Wechselwirkung zwischen demografischen Entwicklungen und den Reaktionen der Arbeitsmärkte.
So wird beispielsweise eine schrumpfende Arbeitsbevölkerung neben einer Erhöhung des Renteneintrittsalters nahezu zwangsläufig auch einen Anstieg des Ausbildungsniveaus nach sich ziehen, was wiederum zu Lohnwachstum führen und die Steuereinnahmen stabilisieren, im günstigsten Fall sogar trotz schrumpfender Bevölkerung sogar vergrößern dürfte.
Die aktuelle Studie untersucht die langfristige Tragfähigkeit öffentlicher Haushalte in allen EU-Staaten unter verschiedenen demografischen Szenarien. Projektionen zur Bevölkerungsentwicklung werden dabei mit Schätzungen zu Angebotselastizitäten (der Grad, zu dem ein Individuum sein Arbeitsangebot an sich ändernde Löhne anpasst) und Nachfrageelastizitäten (der Grad, zu dem die Arbeitsnachfrage der Unternehmen auf den Lohnsatz reagiert) verknüpft.
Die Ergebnisse der Studie bestätigen: Während die Erwerbsbevölkerung in der EU immer älter wird, ist sie gleichzeitig auch immer besser ausgebildet (Abbildung 1), was einen Anstieg der Durchschnittslöhne in ganz Europa zur Folge hat.
Abbildung 1Diese Veränderungen in Größe und Bildungsniveau der Erwerbsbevölkerung haben erhebliche fiskalische Konsequenzen. Am Beispiel der Staatshaushalte Frankreichs, Deutschlands, Italiens und Großbritanniens in den Jahren 2010-2030 werden die massiven Auswirkungen auf direkte Steuern (TAX), Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Selbstständigen (SIC), Sozialtransfers und Renten (BEN) sowie andere altersbezogene öffentliche Ausgaben für Bildung, Kinderbetreuung und Gesundheit (EXP) deutlich (Abbildung 2, basierend auf Abbildung 7 im IZA Discussion Paper [1]).
Abbildung 2
Die reinen demografischen Effekte, ohne Beachtung der Arbeitsmarkteffekte (linker Balken für jedes Land), sorgen für einen erheblichen Ausgabenzuwachs und führen in allen vier betrachteten Ländern zu einem negativen Haushaltssaldo (markiert durch den orangefarbenen Punkt). Dieses fiskalische Resultat ist jedoch eine rein rechnerische Größe und letztlich unrealistisch, denn es lässt die Veränderungen auf den Arbeitsmärkten außen vor, die sich aus der sich wachsenden Arbeitskräfteknappheit ergeben. Werden hingegen die zu erwartenden Lohnsteigerungen berücksichtigt (mittlerer Balken), lassen höhere Einnahmen aus Steuern und Sozialbeiträgen den Haushaltssaldo gegen oder gar über Null steigen, wobei der Umfang von Sozialleistungen weitgehend unverändert bleibt.
Die Autoren nehmen weiterhin an, dass die Politik als Reaktion auf den demografischen Wandel das gesetzliche Renteneintrittsalter erhöhen wird. Das hier gewählte Szenario beinhaltet eine Erhöhung um einheitlich fünf Jahre zwischen 2010 und 2030 (d.h. für Deutschland eine Erhöhung von 65 auf 70 Jahre) Daraus ergibt sich eine zusätzliche Verbesserung des Haushaltssaldos in den meisten EU-Staaten, was in erster Linie auf die dann geringeren Sozialleistungen und höheren Einkommensteuereinnahmen zurückzuführen wäre (rechter Balken). Allerdings kann dabei auch eine dämpfende Wirkung eintreten, wie das Beispiel Großbritanniens veranschaulicht. Hier würde ein höheres Renteneintrittsalter zwar die Zahl der Erwerbstätigen steigern, jedoch nähme gleichzeitig auch das durchschnittliche Einkommen ab, was wiederum zu geringeren Steuereinnahmen führen würde.
Im Falle Deutschlands sorgen mehrere Besonderheiten dafür, dass der Haushalt auch bei Berücksichtigung von fiskalischen Rentenreformeffekten noch knapp unausgeglichen bleibt. Auf Grundlage von EU-Projektionen (Europop 2010) gehen die Autoren zunächst davon aus, dass, der Bevölkerungsrückgang in Deutschland stärker ausfällt als in den meisten anderen EU-Staaten. Dieser überträgt sich zudem besonders deutlich auf die Größe der Erwerbsbevölkerung, was zu geringeren Steuereinnahmen führt. Weiterhin erwarten die Autoren, dass die ‚Bildungsexpansion‘, die fiskalisch positive Lohnsteigerungen zur Folge hat, in Deutschland vergleichsweise gering ausfallen wird.
Trotz dieser Einschränkungen zeichnen die Ergebnisse der neuen Studie auch für Deutschland ein insgesamt deutlich weniger beunruhigendes Bild der haushaltspolitischen Auswirkungen des demografischen Wandels als bislang vorgelegte Analysen, die den Lohnentwicklungen, also der Einnahmenseite, zu wenig Beachtung schenken. Die Kombination aus einem besseren Bildungsniveau und einem höheren Renteneintrittsalter kann den Haushalt in Zukunft spürbar entlasten. Kommen ein durch Arbeitskräfteverknappung bedingter Lohnanstieg und vorausschauende Reformen mit dem Ziel der Verlängerung der Lebensarbeitszeit zusammen, erscheint auch bei schrumpfender Erwerbsbevölkerung eine verträgliche Entwicklung der öffentlichen Haushalte möglich.
„Darüber hinaus sind zusätzliche entlastende Effekte etwa in Form von technologischem Fortschritt oder Fachkräfte-Zuwanderung in Rechnung zu stellen, die das Gesamtbild weiter aufhellen dürften. Eine schrumpfende Erwerbsbevölkerung muss keineswegs mit einem Kollaps der öffentlichen Haushalte einhergehen“, so IZA-Chef Hilmar Schneider.