Ökonomische Studien zu den Auswirkungen von Mindestlöhnen auf Beschäftigung, Preise, Gewinne und Produktivität basieren in der Regel auf der Annahme, dass sich alle Unternehmen an die geltenden Mindestlohnregelungen halten. In der Realität ist das jedoch nicht immer der Fall, wie jüngst eine medienwirksame Studie zu Minijobbern in Deutschland zeigte, auch wenn deren Aussagekraft mit einigen methodischen Fragezeichen verbunden war.
Die internationale Forschung zur Nichteinhaltung von Mindestlöhnen konzentriert sich bislang primär auf Entwicklungs- und Schwellenländer (siehe Überblick in IZA World of Labor). Ein aktuelles IZA Discussion Paper liefert nun erstmals eine umfassende Analyse von Verstößen gegen Branchenmindestlöhne in Italien. Der OECD-Ökonom Andrea Garnero nutzte dafür neben Befragungen von Unternehmen und Beschäftigten auch amtliche Statistiken und Sozialversicherungsdaten der Jahre 2008 bis 2015.
Zunächst offenbart die Studie die enorme Komplexität der italienischen Tariflandschaft: Statt eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns gibt es über 800 branchenbezogene Tarifvereinbarungen mit Tausenden von Einzelregelungen – bis hin zu eher exotischen Berufsgruppen wie Küstern oder Emotionscoaches.
Im internationalen Vergleich liegen Italiens Mindestlöhne auf hohem Niveau, auch gemessen am Medianlohn. Garnero ermittelt jedoch, dass jeder zehnte Arbeitnehmer unterhalb des geltenden Mindestlohns bezahlt wird. Die Abweichung fällt mit durchschnittlich 20 Prozent bemerkenswert hoch aus. Davon betroffen sind vor allem Frauen und Leiharbeiter sowie Beschäftigte von Kleinbetrieben.
Besonders auffällig sind die Verstöße in den südlichen Regionen Italiens, wohl auch weil hier aufgrund geringerer Lebenshaltungskosten der Reallohn höher ausfällt als im Norden des Landes. Das Fazit des Experten: In seiner jetzigen Form ist das komplexe italienische Tarifsystem nicht in der Lage, gleiche Wettbewerbsbedingungen für Unternehmen zu schaffen und zudem sicherzustellen, dass Geringverdiener von Mindestlohnerhöhungen profitieren. Vielmehr sorgt es für starke Anreize, den jeweiligen Mindestlohn zu umgehen.
Jenseits von schärferen Kontrollen schlägt Garnero ein Maßnahmenbündel vor, das sich ohne hohen Kostenaufwand umsetzen ließe:
- Komplexität reduzieren: Um das kaum überschaubare Regelungsdickicht zu lichten, könnten die Anforderungen an den Abschluss gültiger Tarifvereinbarungen erhöht und deren Zahl damit gesenkt werden.
- Transparenz steigern: Höhe und Geltungsbereich der Branchenmindestlöhne könnten über eine nutzerfreundliche Online-Datenbank besser bekannt gemacht werden, ergänzt um Hotlines und Beratungsplattformen für Beschäftigte und Unternehmen (als mögliches deutsches Vorbild nennt Garnero hier http://www.der-mindestlohn-wirkt.de).
- Bewusstsein schaffen: Durch Informationskampagnen könnte die Öffentlichkeit für Mindestlohnverstöße stäker sensibilisiert werden. Denkbar wären laut Garnero auch „schwarze Listen“ mit Unternehmen, die sich nicht an den Mindestlohn halten.