Der russische Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat zur größten Flüchtlingskrise in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Derzeit gewährt die Europäische Union mehr als vier Millionen Schutzsuchenden aus der Ukraine einen befristeten Aufenthaltstitel. Wie sich die Rückkehrpläne der Geflüchteten seit Kriegsbeginn entwickelt haben, dokumentieren Joop Adema, Cevat Giray Aksoy, Yvonne Giesing und Panu Poutvaara in einem aktuellen IZA-Forschungspapier.
Europaweite Panelbefragung mit verknüpften Geodaten
Die Studie basiert auf einer seit Juni 2022 durchgeführten europaweiten Panelbefragung ukrainischer Geflüchteter. Durch die Verknüpfung der Antworten mit Daten zu den Kampfhandlungen in den Heimatgemeinden der Befragten können die Forschenden ermitteln, inwieweit das Kriegsgeschehen einen unmittelbaren Einfluss auf Rückkehrpläne und Integrationsbemühungen hat.
Während der ersten Flüchtlingswelle im Jahr 2022 beabsichtigten etwa zwei Drittel der ukrainischen Schutzsuchenden, baldmöglichst in die Heimat zurückzukehren, während nur etwa jede/r Zehnte vorhatte, sich dauerhaft im Ausland niederzulassen. Ein Drittel derjenigen, die eine baldige Rückkehr beabsichtigten, haben mittlerweile ihre Pläne umgesetzt. Die folgende Abbildung veranschaulicht die Abnahme der Rückkehrintention mit anhaltender Kriegsdauer:
Erwartungen zunehmend pessimistisch
Die Erwartungen über den Ausgang des Krieges sind im Zeitverlauf deutlich pessimistischer geworden. Zwischen September 2022 und Januar 2023 gingen noch 71 Prozent der Befragten davon aus, dass der Krieg mit der Befreiung aller besetzten Gebiete durch die Ukraine bis Ende 2024 enden würde, im Oktober-November waren es nur noch 36 Prozent. Zugleich sank, wenn auch in geringerem Maße der Anteil der Befragten, die entweder bereits in die Ukraine zurückgekehrt sind oder es noch vorhaben, von 66 auf 54 Prozent.
Eine pessimistische Kriegserwartung erhöht die Wahrscheinlichkeit, einen dauerhaften Verbleib im Ausland zu planen, um fünf Prozentpunkte. Einen ähnlichen Effekt verursachen intensive Kampfhandlungen in der Heimatregion. Diese verringern außerdem die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr in den eigenen Heimatort, nicht aber ins Heimatland insgesamt. Umgekehrt erhöht die Befreiung des Heimatbezirks die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr in die Ukraine um fünf Prozentpunkte.
Wiederaufbau erfordert Rückkehrmigration
Die Arbeitsmarktbeteiligung im Aufnahmeland ist von diesen Faktoren weitestgehend unabhängig. Allerdings sinkt die Teilnahme an beruflicher Aus- und Weiterbildung infolge der Befreiung des Heimatgebiets, was darauf hindeutet, dass Investitionen in die Arbeitsmarktintegration des Gastlandes weniger dringlich erscheinen, wenn sich die Rückkehraussichten verbessern.
Angesichts einer bereits vor dem russischen Angriff schrumpfenden ukrainischen Bevölkerung wäre eine Rückkehr von Fachkräften für den Wiederaufbau nach dem Krieg von entscheidender Bedeutung. Doch die weit verbreitete Korruption und das geringe Vertrauen in die Justiz machen eine Rückkehrmigration zusätzlich unattraktiver. Nach Einschätzung der Forschenden bestehe eine zentrale Herausforderung für die Ukraine darin, die kriegsbedingt gestärkte nationale Einigkeit zu nutzen, um einen Kulturwandel mit umfassenderen institutionellen Reformen anzustoßen.