Der drastische und unerwartete Anstieg der Flüchtlingszahlen im Jahr 2015 hat die anhaltende Diskussion über die Einführung eines Einwanderungsgesetzes in den Hintergrund treten lassen. In der aktuellen Lage halten viele Beobachter ein solches Gesetz für unangebracht. Dabei könnte gerade jetzt, wo die Flüchtlingszahlen wieder zurückgehen, der richtige Zeitpunkt sein, um die Diskussion um ein deutsches Einwanderungsgesetz wieder aufzunehmen, nicht zuletzt um den Rechtspopulisten in dieser Frage nicht das Feld zu überlassen.
Obwohl die Bundesrepublik schon seit den frühen Sechzigerjahren ein beliebtes Einwanderungsland ist, wurde erst 2004 der erste Vorstoß für deutsches Einwanderungsgesetz gestartet. Auch wenn alle bisherigen Versuche gescheitert sind, halten IZA-Experten eine Reform des deutschen Einwanderungsrechts, insbesondere mit Blick auf die Einrichtung qualitativer und quantitativer Auswahlkriterien, nach wie vor für dringend geboten.
George Borjas (Harvard University), einer der international führenden Migrationsökonomen und Programmdirektor des IZA-Forschungsbereiches „Labor Mobility“, spricht im IZA-Newsroom-Interview über Migrationspolitik und seine Sicht auf die aktuelle Debatte.
IZA: Professor Borjas, in der Migrationsfrage ist nicht nur die öffentliche Diskussion stark polarisiert. Auch unter Ökonomen gibt ist sehr unterschiedliche Perspektiven auf die Vor- und Nachteile der global zunehmenden Arbeitsmobilität. Was ist Ihre Sicht der Dinge?
George Borjas: Das ist eine gute Frage, die nicht ganz einfach zu beantworten ist. Bei internationaler Arbeitsmobilität denke ich in erster Linie an ökonomische Modelle. Das heißt, ich habe einen bestimmten methodischen Ansatz im Kopf, der mich bei der Lösungsfindung leitet. Natürlich gehe ich auch eigener empirischer Forschung nach, aber üblicherweise sehe ich die Daten immer in einem wirtschaftlichen Bezugsrahmen.
Sozialwissenschaftler und selbst manche Ökonomen betrachten Einwanderung als ein Politikfeld, was es natürlich auch ist, aber dieser Ausgangspunkt bestimmt die Art und Weise, wie wir Fragen stellen und Daten interpretieren. Das Problem an dieser auf Politik fokussierten Herangehensweise ist, dass sich dadurch unsere politischen Präferenzen auf unsere Arbeit und unsere Forschungsergebnisse auswirken können.
Deutschland diskutiert über eine Reform des Einwanderungsgesetzes. Wie kann Migrationspolitik uns dabei helfen, von den positiven Effekten der Zuwanderung zu profitieren?
Die wirtschaftswissenschaftliche Fachliteratur zum Thema Einwanderung zeigt vor allem eines: Rein ökonomisch betrachtet profitiert das aufnehmende Land von gut ausgebildeten Zuwanderern stärker als von schlecht ausgebildeten.
In den Industrienationen können die Hochqualifizierten bestehende Ressourcen wesentlich besser ergänzen und ihr Wissen in andere Wirtschaftsbereiche übertragen, was letztlich die gesamte Wirtschaft produktiver macht. Außerdem zahlen sie tendenziell mehr Steuern und empfangen weniger Sozialleistungen.
Die Frage ist also nicht, ob gut qualifizierte Einwanderer mehr wirtschaftliche Vorteile bringen als geringqualifizierte. Die Frage ist vielmehr, ob die Einwanderungspolitik primär von ökonomischen Zielen geleitet sein sollte.
Im Oktober erscheint Ihr neues Buch mit dem Titel „We Wanted Workers: Unraveling the Immigration Narrative“. Was kann der deutsche Leser von Ihrem Buch lernen?
Der Titel meines Buches basiert auf einem Zitat des Schweizer Schriftstellers Max Frisch. Mit Blick auf die Einwanderung der Gastarbeiter nach Deutschland und in andere europäische Länder in den 1950er- und 1960er-Jahren prägte er den berühmten Satz: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“
Wie ich in meinem Buch darlege, können wir von dieser Einsicht lernen, dass die „ökonomistische“ Perspektive auf internationale Migration – die Migranten als eine Art Armee von Arbeitsrobotern betrachtet – fehlgeleitet ist. Zuwanderer sind Menschen, die sich auf das aufnehmende Land in vielfältiger Weise auswirken. Und die wirtschaftliche Bedeutung der gesellschaftlichen Auswirkungen könnte wesentlich größer sein als die Vorteile, die sich allein aus der Arbeitsmarktbeteiligung der Zuwanderer ergeben.
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