Das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zählt zu den häufigsten Diagnosen von Verhaltensauffälligkeit unter schulpflichtigen Kindern. ADHS-Diagnosen sind unter Ärzten, Lehrern und Eltern gleichermaßen umstritten, weil sie als stigmatisierend empfunden werden und medikamentöse Therapien von schweren Nebenwirkungen begleitet sein können.
Besonders frappierend in diesem Zusammenhang: Die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose hängt stark vom relativen Alter eines Schülers innerhalb einer Klassenstufe ab. Darauf weist eine aktuelle Studie von IZA-Fellow Hannes Schwandt (Universität Zürich) und Amelie Wuppermann (LMU München) hin.
Ob ein Kind mit fünf oder sechs Jahren eingeschult wird, hängt in Deutschland zunächst davon ab, ob sein Geburtstag vor oder nach einem bundeslandspezifischen Stichtag liegt. Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag entscheiden dann, ob ein Kind zu den jüngsten oder ältesten Mitschülern gehört. Das neue IZA-Diskussionspapier zeigt, dass diese Stichtagsregelung schwerwiegende Folgen haben kann.
Die Forscher analysierten bundesweite, kassenübergreifende ärztliche Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten des Versorgungsatlas von rund sieben Millionen Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011. Das Ergebnis: Kinder, die im Monat vor dem Stichtag geboren sind, also zu den jüngsten ihrer Klasse zählen dürften, erhalten zu 5,3% eine ADHS-Diagnose. Bei Kindern mit Geburtstag im Monat nach dem Stichtag ist die Wahrscheinlichkeit deutlich geringer (4,3%). Die Grafik verdeutlicht, dass innerhalb der jeweiligen Klassenstufe die ADHS-Diagnosehäufigkeit mit steigendem Einschulungsalter der Kinder abnimmt:
Als Ursache vermuten die Autoren, dass das Verhalten jüngerer – und damit in der Regel unreiferer – Kinder in einer Klasse mit dem der älteren Kinder verglichen wird. Ausgeprägtere Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit bei den jüngeren werden somit häufiger als ADHS interpretiert.
Angesichts des ADHS-Stigmas und der Gefahren medikamentöser Behandlung hoffen die Ökonomen, dass ihre Ergebnisse auch in der medizinischen Praxis Beachtung finden. „Unsere Studie zeigt, dass die traditionelle Einschulungspolitik, bei der die Schulpflicht an gegebene Stichtage geknüpft wird, die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen kann. Kinder, die quasi gleich alt sind, haben aufgrund der Einschulungspolitik ein unterschiedlich hohes Risiko, eine ADHS-Diagnose zu bekommen“, schreiben die Forscher.