Schulschließungen zählen zu den häufigsten und zugleich umstrittensten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Die Kosten der entgangenen Bildung sind enorm: Bis zu 15 Billionen US-Dollar könnten die weltweit betroffenen Schülerjahrgänge an Lebenseinkommen einbüßen. Dennoch werden Schulen in vielen Ländern nur zögerlich wieder geöffnet und bei lokalen Ausbrüchen oft schnell wieder geschlossen. Medienberichte über die Quarantäne von Schulklassen befeuern zusätzlich die Sorge vor der Entstehung neuer Infektionsherde in Schulen.
Diese Sorge könnte unbegründet sein, zumindest was den Schulneustart in Deutschland nach den Sommerferien betrifft. Darauf deutet eine aktuelle IZA-Studie von Ingo Isphording, Marc Lipfert und Nico Pestel hin. Aufgrund der zeitversetzten Sommerferien in den Bundesländern konnten die Forscher die Auswirkungen der Schulöffnungen auf die SARS-CoV-2-Fallzahlen schätzen. Dazu verglichen sie die tägliche Differenz der Fallzahlen zwischen Kreisen in Bundesländern mit endenden Sommerferien bzw. mit weiterhin geschlossenen Schulen über die Zeit.
Die Abbildung veranschaulicht die Ergebnisse der Analyse: Jeder Punkt der dicken schwarzen Linie entspricht einer Veränderung der Differenz zwischen Kreisen in „öffnenden“ Bundesländern und solchen mit später endenden Sommerferien. Jeder Punkt ist dabei zusätzlich als relativer Unterschied zum letzten Tag vor Ende der Sommerferien dargestellt. Ein ausbleibender Trend von Unterschieden nahe Null vor dem Ende der Sommerferien zeigt, dass sich die relativen Unterschiede vor der Wiedereröffnung der Schulen nicht verändert haben. Erst nach dem Ende der Schulferien treten Unterschiede auf. Dieses Muster bestätigt die Annahme der Forscher, tatsächlich einen kausalen Effekt des Sommerferienendes abzuschätzen.
Nach den Sommerferien gingen die relativen Fallzahlen zurück
Nach dem Ende der Sommerpausen nehmen die relativen Zahlen der neu bestätigten Fälle in den Wiedereröffnungsstaaten im Verhältnis zu den (noch) nicht wiedereröffneten Staaten allmählich ab. Der Effekt ist beträchtlich: Drei Wochen nach der Sommerpause macht die Differenz 0,55 Fälle weniger pro Tag aus – etwa 27 Prozent einer typischen Differenz zwischen zwei täglichen Zählungen vor dem Ende der Sommerferien. Der Effekt ist dabei auf die Altersgruppen der schulpflichtigen Kinder und ihrer Eltern konzentriert. Risikogruppen ab einem Alter von 60 Jahren sind hingegen nicht betroffen.
„Dieses Ergebnis entspricht sicher nicht dem, was wir erwartet hätten“, sagt IZA-Forscher Ingo Isphording. Auch die Wissenschaftler selbst waren – wie viele in Politik, Medien und Öffentlichkeit – besorgt über die Wiedereröffnung der Schulen. Sie überprüften ihre Ergebnisse daher mit einer Vielzahl unterschiedlicher Ansätze und Schätzspezifikationen, doch auch alle anderen Methoden zeigten keinen Anstieg der Fallzahlen aufgrund der Schulöffnungen.
Die Autoren liefern dafür mehrere mögliche Erklärungen. Zunächst fiel das Ende der Sommerferien in eine Phase mit insgesamt niedrigen Infektionsraten. Außerdem wendeten die Schulen strikte Hygienemaßnahmen an, darunter die Maskenpflicht, Unterricht in festen Kleingruppen sowie Schnelltests und Quarantäne von Klassen, in denen ein Schüler oder Lehrer positiv getestet wurde. Hinzu komme, dass viele Eltern nach den Erfahrungen mit dem „Homeschooling“ besondere Vorsicht walten ließen, um keinen erneuten Betreuungsengpass zu riskieren. „Wenn die Folge einer laufenden Nase ist, dass meine Tochter einige Tage nicht zur Schule gehen kann, überlege ich es mir zweimal, ob sie auf engem Raum mit anderen spielen darf“, so Isphording. Diese besondere Situation beim Schulneustart nach den Ferien lasse daher keine Umkehrschlüsse auf die Effekte der Schulschließungen im Frühjahr zu.
Die Ergebnisse der Studie bieten eine wertvolle Orientierung für Länder, in denen die Schulen noch nicht wieder geöffnet wurden. Sie zeigt dass in einer Situation, in der Schulen unter strikten Hygienemaßnahmen wiedereröffnet wurden, die Fallzahlen nach der Wiedereröffnung der Schulen nicht angestiegen sind. Auch neue Quarantänemaßnahmen bestätigen letztlich, dass das System zur Eindämmung an den Schulen funktioniert. Frei verfügbare Schnelltests für Lehrer und Schüler sowie dezentralisierte Quarantäne- und Eindämmungsmaßnahmen scheinen in einer Situation mit geringer Ausbreitung in der Gemeinde ausreichend zu sein, um die Pandemie unter Kontrolle zu halten und gleichzeitig einen universellen Unterricht in der Klasse zu ermöglichen. Angesichts der hohen unmittelbaren und längerfristigen Humankapitalkosten, die durch die Schließung von Schulen entstehen, können die Ergebnisse der Studie dazu beitragen, die Kosten-Nutzen-Erwägungen einer Rückkehr zum Präsenzunterricht neu zu bewerten.
Aufgrund der besonderen Situation in Deutschland nach den Sommerferien und der noch kurzen Phase der Wiederöffnung wollen die Autoren ihre Studie zwar nicht als uneingeschränktes Plädoyer für rasche Schulöffnungen verstanden wissen. Sie raten jedoch dazu, Kosten und Nutzen sorgfältig abzuwägen, statt bei lokal aufflammendem Infektionsgeschehen reflexartig wieder zum Mittel der Schulschließung zu greifen.