Seit 1. Januar 2015 gibt es ihn – den gesetzlichen Mindestlohn für knapp vier Millionen Menschen in Deutschland. Aus Sorge vor negativen Beschäftigungseffekten wurde eine zweijährige Übergangsperiode für Branchen mit gültigem Tarifvertrag, der allgemeinverbindlich erklärt werden kann, zugelassen. So dürfen zum Beispiel die Löhne im Friseurhandwerk und in der Fleischindustrie weiterhin unter 8,50 € liegen. Dagegen konnten sich die Tarifparteien im Hotel- und Gaststättengewerbe nicht auf einen Tarifvertrag einigen, so dass der Mindestlohn dort bereits seit knapp drei Monaten greift.
Auch Ausnahmen für Jugendliche unter 18 Jahren, Langzeitarbeitslose (für sechs Monate), Pflicht-Praktikanten, Zeitungszusteller und Saisonarbeiter wurden in das Mindestlohngesetz eingebaut. In den letzten Monaten kamen Ausnahmen für LKW-Transitfahrten und Amateursportler hinzu.
Die konstituierende Sitzung der aus sieben Mitgliedern bestehenden Mindestlohnkommission unter Vorsitz des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters Henning Voscherau hat stattgefunden. Zwei Ökonomen sind beratend tätig. Die Geschäfts- und Informationsstelle der Mindestlohnkommission wurde bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin angesiedelt und sucht jetzt Fachpersonal für ihren Dienstsitz in Berlin.
Was ist bisher auf dem Arbeitsmarkt passiert? Das Timing für eine solch tiefgreifende Arbeitsmarktreform war jedenfalls zufälligerweise optimal: Die Beschäftigung ist höher als je zuvor, die Arbeitslosigkeit ist saisonbereinigt zum Januar hin sogar leicht zurückgegangen, und mehrere Wachstumsprognosen wurden nach oben korrigiert. Schließlich ist die Preissteigerungsrate sehr gering.
Anekdotische Evidenz gibt es zu erfolgreichen Stundenlohnerhöhungen für Arbeitnehmer, zu mehr arbeitsuchenden Taxifahrern, aber auch zu vier Lohnkostensenkungsstrategien von Arbeitgebern. Erstens werden Mitarbeiter zu unbezahlten Überstunden gedrängt. Unklar bleibt jedoch, ob dies mehr als bisher passiert oder ob die Berichterstattung über diese Praxis zugenommen hat. Zweitens werden Mitarbeiter in die Selbständigkeit gedrängt oder sind mangels Alternative zur Selbständigkeit gezwungen. Unklar bleibt auch hier, ob sich dieser bereits bestehende Trend verstärkt hat. Ein Blick auf die Entwicklung der Zahl der Solo-Selbständigen könnte lehrreich sein. Drittens werden Werk- und Dienstverträge abgeschlossen. Viertens werden Stücklöhne wie zum Beispiel zu reinigende Hotelzimmer vereinbart. Da jeweils die kontrafaktische Evidenz, also das „Was wäre gewesen ohne Mindestlohn“ fehlt, ist es Spekulation, ob es sich dabei tatsächlich um Strategien zur Umgehung des gesetzlichen Mindestlohns handelt.
Preiserhöhungen lassen sich im Alltag beim Bäcker, Friseur und bei der Taxifahrt beobachten, ein Rückgang der Nachfrage ist zumindest nicht auszuschließen. Anpassungsreaktionen könnten das Ausweichen auf preiswerteres, weil minderwertigeres Brot, der Kauf eines Rasierers zur Selbstrasur oder zu-Hause-bleiben sein. Aber die Preiserhöhungseffekte müssten schon gewaltig sein, um kurzfristig starke Nachfragerückgänge in der jetzigen Topform der Volkswirtschaft auszulösen. Mittelfristig kann das bei abflauender Konjunktur und zunehmender Arbeitslosigkeit schnell anders aussehen.
Haben die Ökonomen also zur Abwechslung eine Gefahr überschätzt? Nein, sie haben die Politik erfolgreich zu Übergangsperioden, Ausnahmen und Evaluation gedrängt, um die Wahrscheinlichkeit negativer Beschäftigungseffekte zu minimieren. Wenn Mitte 2016 über eine Erhöhung des Mindestlohns zum 1. Januar 2017 entschieden wird, dann werden Ökonomen mit ihren Analysen erneut zu einer sachgerechten Entscheidung beitragen