Ein großzügiger Sozialstaat gilt in der öffentlichen Wahrnehmung oft als Magnet für geringqualifizierte Zuwanderer, die vermeintlich kaum Steuern zahlen, aber von umfangreichen öffentlichen Leistungen profitieren. Mehr Zuwanderung könnte demnach das heimische Wahlvolk veranlassen, von der Politik weniger Umverteilung zu fordern – potenziell auch zum Nachteil ärmerer Landsleute.
Was aber, wenn Migranten selbst an der Wahlurne mitentscheiden können? Dieser Frage widmet sich eine aktuelle IZA-Studie von Arnaud Chevalier, Benjamin Elsner, Andreas Lichter und Nico Pestel. Das Forscherteam untersuchte am Beispiel westdeutscher Städte in der Nachkriegszeit, wie sich die kommunale Steuer- und Ausgabenstruktur infolge des Zustroms von Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten verändert hat.
Wahlrecht und Sozialleistungen
Durch die Aufnahme von rund acht Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs die westdeutsche Bevölkerung binnen kurzer Zeit um fast 20%, wobei der Migrantenanteil regional zwischen rund 2% und 40% stark variierte. Als deutsche Staatsangehörige waren die überwiegend mittellosen Neubürger unmittelbar nach ihrer Ankunft wahlberechtigt und hatten vollen Anspruch auf Sozialleistungen.
Die Datenanalyse zeigt, dass die Kommunalpolitik mit selektiven, dauerhaften Steuererhöhungen sowie Umschichtungen bei den öffentlichen Leistungen reagierte. Landbesitzer und Gewerbetreibende wurden stärker belastet, während die Steuern auf Wohnimmobilien und Arbeitseinkommen unverändert blieben. Städte mit hohem Flüchtlingszustrom gaben mehr Geld für Sozialleistungen aus und sparten dafür an Infrastruktur und Wohnungsbau.
Langfristige Effekte
Die ebenfalls untersuchten Wahlergebnisse deuten darauf hin, dass die Veränderungen der Umverteilungspolitik zumindest teilweise auf den direkten Einfluss der Migranten zurückgehen: In Regionen mit hohem Zuzug stellten die großen Parteien häufiger Vertriebene als Kandidaten auf, und die Vertriebenenpartei (GB / BHE) erzielte vergleichsweise hohe Stimmenanteile. Selbst fünf Jahrzehnte später sind die politischen Präferenzen für Umverteilung nach wie vor dort besonders ausgeprägt, wo nach dem Krieg besonders viele Vertriebene aufgenommen wurden.
Auch wenn sich die Sondersituation der Zuwanderung von Staatsbürgern nicht unmittelbar auf heutige Wanderungsströme übertragen lässt, sind die Erkenntnisse für die politische Debatte rund um das Ausländerwahlrecht durchaus relevant. Zugewanderte EU-Bürger beispielsweise können bereits heute im Land ihres Wohnsitzes an Kommunalwahlen teilnehmen. Aber auch mit Blick auf die ausgeprägte Binnenmigration in Entwicklungs- und Schwellenländern lassen die Ergebnisse den Schluss zu, dass die anhaltende Landflucht ärmerer Menschen – mit gleichem Wahlrecht – die politische Landschaft in den Großstädten verändern und zu mehr Umverteilung führen dürfte.