Von Benjamin Hartung, Philip Jung und Moritz Kuhn
Die Hartz-Reformen sind im Jahr 2018 das arbeitsmarktpolitische Thema. Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei vor allem der letzte Teil der Hartz-Reformagenda: Hartz IV. Eine der zentralen Fragen ist, ob dieser Reformschritt entscheidend zur Halbierung der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 2005 beigetragen hat und ob die Reform damit auch als Vorbild für Arbeitsmarktreformen in Europa dienen kann.
Um diese Frage beantworten zu können, muss zunächst die genaue Faktenlage zu den Veränderungen am deutschen Arbeitsmarkt bekannt sein. Mittels moderner Arbeitsmarktsimulationsmodelle kann dann auf Basis der Fakten untersucht werden, ob die beobachteten Veränderungen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, die den Kern der Hartz-IV-Reform darstellte, erklärt werden können. Diesen Ansatz verfolgen wir in unserer neuen Studie.
Zu- und Abgangsraten der Arbeitslosigkeit
Zur Dokumentation der Fakten werten wir die Erwerbsverläufe von Millionen von Beschäftigten aus den Daten der Bundesagentur für Arbeit über zwei Jahrzehnte aus (1993-2014). Wir nutzen für unsere Analyse eine einfache Buchhaltungsregel: Wenn die Arbeitslosigkeit sinkt, dann kann dies passieren, weil weniger Menschen arbeitslos werden (Zugänge in Arbeitslosigkeit) oder weil mehr Arbeitslose eine Stelle finden (Abgänge aus Arbeitslosigkeit).
Das zentrale Ergebnis unserer empirischen Untersuchung ist, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit in Deutschland seit 2005 zu 75% dadurch zu erklären ist, dass weniger Menschen arbeitslos wurden – und nicht wie oft vermutet dadurch, dass mehr Menschen aus der Arbeitslosigkeit heraus eine Stelle fanden. Der Schlüssel zum Verständnis der Reform des Arbeitslosenversicherungssystems liegt somit nicht bei den Arbeitslosen, sondern bei den Beschäftigten, die weder arbeitslos sind noch arbeitslos werden!
Unsere empirischen Auswertungen zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu werden ein Jahrzehnt nach den Reformen um fast ein Drittel gefallen ist, während die Wahrscheinlichkeit als Arbeitsloser eine Stelle zu finden, im gleichen Zeitraum um nur gut 10% angestiegen ist (Abbildung 1).
Die Reform hat sich jedoch auf einzelne Gruppen von Arbeitnehmern sehr unterschiedlich ausgewirkt. Bei langjährig Beschäftigten mit hohen Löhnen sank die Wahrscheinlichkeit arbeitslos zu werden besonders stark (Abbildung 2).
Dieses Ergebnis deckt sich mit der Tatsache, dass für langjährig Beschäftigte, die fast zwei Drittel des Arbeitsmarktes ausmachen, neben der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe gleichzeitig auch die Bezugsdauer für Arbeitslosengeld besonders stark gekürzt wurde. In der Reaktion waren Arbeitnehmer bereit, etwa im Rahmen von betrieblichen Bündnissen für Arbeit Lohnzuwachs gegen Arbeitsplatzgarantien zu tauschen, wodurch es zu einem Rückgang der Zugänge in Arbeitslosigkeit kam.
Korrelation oder Kausalität?
Im zweiten Schritt unserer Studie untersuchen wir, ob die Fakten zu den Veränderungen durch die Hartz-IV-Reform erklärt werden können. Wir nutzen dazu ein modernes Simulationsmodell des deutschen Arbeitsmarktes, das die Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland im Jahrzehnt vor den Hartz-Reformen sehr gut abbilden kann. Nachdem wir im Modell die Reform durchführen, erklärt das Modell auch nach 2005 die Arbeitsmarktentwicklung sehr gut.
Wir schließen daraus, dass die Hartz-IV-Reform eine Erklärung für den Rückgang der Arbeitslosigkeit liefern könnte, und zeigen, dass sie mit den dokumentierten Fakten konsistent ist. Um unsere Ergebnisse auf Plausibilität zu prüfen, führen wir eine Art Placebotest durch. Die Ergebnisse dieses Tests zeigen, dass sich die deutsche Arbeitslosenrate ohne die Reform im Gleichschritt mit den österreichischen Arbeitslosenraten entwickelt hätte, also genau wie in einem Arbeitsmarkt, in dem keine Reform stattfand. Insgesamt finden wir, dass die Arbeitslosenrate ohne Reform im Jahr 2014 50% höher wäre als im Fall mit Reform (Abbildung 3).
Gesamtwirtschaftlich kann die Reform also eine mögliche Erklärung für den Rückgang der Arbeitslosigkeit liefern. Aber was sind die Konsequenzen auf individueller Ebene? Unseren Ergebnissen zufolge wären langjährig beschäftigte Arbeitnehmer, falls sie nicht im Nachgang der Reform entlastet werden, zum dauerhaften Verzicht auf rund 0,7% ihres Lohns bereit. Dies könnte also auch zur Erklärung beitragen, warum die Reformen trotz des starken Rückgangs der Arbeitslosigkeit nach wie vor recht unpopulär sind.